Der Vorstand unserer Gesellschaft hat davon Kenntnis, dass die Universitaet Bristol ihr Studienangebot in Germanistik auf die Moderne beschraenken, also die Bereiche Mittelalter und Fruehe Neuzeit aufheben will. Als Gesellschaft der Germanistischen Mediaevistik mit ueber 400 gelehrten Mitgliedern aus aller Welt, darunter mehr als 20 aus Ihrem Land, geben wir mit diesem offenen Brief zu bedenken:
- Die Germanistische Mediaevistik (oder Germanische Philologie) ist der historische Kernbereich und die Basis der Germanistik als wissenschaftliche Disziplin. Sie war das Arbeitsgebiet der Brueder Grimm und Karl Lachmanns, aus dem sich die neuere Literatur- und Sprachwissenschaft als Spezialgebiete entwickelt haben.
- Die Germanistische Mediaevistik versteht sich seit ihren Anfaengen als weitgefasste Wissenschaft von der Geschichte der deutschen Sprache und aller in ihr verfassten Texte unter Beruecksichtigung der historischen und kulturellen Kontexte. Das Spektrum ihrer Interessen reicht vom Recht ueber die Fachliteratur und die Dichtung zu religioesen und philosophischen Texten. In keinem anderen Bereich der Germanistik lernt man in vergleichbarer Weise in kulturellen Zusammenhaengen, also vernetzt zu denken.
- Die Germanistische Mediaevistik ist heute eine kulturwissenschaftlich interessierte, interdisziplinaer ausgerichtete, aber auf philologischer und historischer Forschung basierende Wissenschaft. Wo immer mediaevistische Faecher in Instituten, Projekten und Gesellschaften kooperieren, ist die Germanistische Mediaevistik beteiligt, sehr oft leitend.
- Vertreter der Germanistischen Mediaevistik haben daher seit jeher in weit ueberproportionalem Umfang Spitzenpositionen in Universitaetsleitungen, Wissenschaftsverwaltung und Forschungsfoerderung besetzt, der gegenwaertige Praesident des Deutschen Wissenschaftsrates ist nur ein prominentes Beispiel.
- Im Rahmen des Studienfachs Germanistik garantiert die Mediaevistik die historische Dimension der Disziplin. Ohne sie wird die deutsche Literatur um Jahrhunderte verkuerzt, Entstehung und Vorgeschichte des Romans, der Lyrik, des Lieds, der Historiographie, des religioesen Schrifttums, der Fachliteratur und der Enzyklopaedik werden unverstaendlich – die Geschichte fast aller moderner Gattungen laesst sich nicht mehr als Ganze denken.
- Das Studium der mittelhochdeutschen Sprache als vom heutigen Deutsch weit genug entfernte Sprachstufe erleichtert den Zugang zu historisch weniger tiefliegenden Schichten des Deutschen. Die Sprache Luthers, aber auch die Sprache Goethes zu verstehen, setzt die Kenntnis der vorausgehenden Entwicklung der deutschen Sprache voraus.
- Die Mediaevistik ermoeglicht die Begegnung mit einer zunaechst ganz fremden Stufe der eigenen Kultur, einer Zeit vor dem Buch und vor verbreiteter Lesefaehigkeit. Verstehen setzt hier das Erlernen vielfaeltiger Techniken der UEbertragung voraus, weit ueber das sprachliche UEbersetzen hinaus. Das Erlernen dieser Techniken schaerft den Blick fuer historisch begruendete kulturelle Differenzen.
- Nach dem grossflaechigen Einbruch der Lateinkenntnisse sind die leichter erlernbaren mittelalterlichen Volkssprachen zugleich der einzige authentische Zugang zu der UEberlieferung des Mittelalters und der Fruehen Neuzeit. Den Mittelalterphilologien kommt daher eine wachsende Bedeutung zu.
- Wo man glaubt, auf den Beitrag der Mediaevistik verzichten zu koennen, gibt man den Anspruch auf ein ernst zu nehmendes universitaeres Studium im Bereich der Germanistik auf. Das Fach wird zur auf den Spracherwerb konzentrierten Fremdsprachendisziplin, verliert seinen Platz im interuniversitaeren und internationalen wissenschaftlichen Austausch, der Wechsel der Studierenden an andere Universitaeten wird erschwert.
Die britische Germanistik ist bereits zu klein, um sich weitere Eingriffe in die noch bestehende Substanz leisten zu koennen – die Entscheidung Ihrer Universitaet ist daher von nationaler und internationaler Tragweite.
Wir bitten Sie daher dringend, Ihre Entscheidung zu ueberdenken: Der oekonomisch begruendete, spontane Abbau historischer Disziplinen wuerde sehr rasch zu einer Schaedigung der Geisteswissenschaften fuehren, die nicht mehr gut zu machen ist. Die Verflachung des historischen Bewusstseins trifft den Kern der abendlaendischen Identitaet zu einem Zeitpunkt, da die Kenntnis der eigenen Vergangenheit als Grundlage der interkulturellen Verstaendigung dringend notwendig ist. Dieser Abbau ist also politisch, nicht nur bildungspolitisch nicht zu verantworten. Principiis obsta.
Der Vorstand (Prof. Dr Prof. Dr. Eckart Conrad Lutz Universitaet Freiburg Schweiz; Prof. Dr. Klaus Ridder Universitaet Tuebingen; Prof. Dr. Susanne Koebele Universitaet Erlangen